Wir befragen Brandenburger zur Rolle und Bedeutung von freien Schulen, heute – Dr. Irene Petrovic-Wettstädt:
Frau Petrovic-Wettstädt, Sie waren bis 2021 die Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft freier Schulen im Land Brandenburg und leiten seit über zwanzig Jahren als geschäftsführende Gesellschafterin und pädagogische Gesamtleiterin den Leonardo da Vinci Campus: Was bedeutet für Sie „leben“?
Irene Petrovic-Wettstädt: Kurz gesagt: Aktiv sein, sich einmischen, interessieren, dabei sein, Entwicklungen befördern, anstoßen, wahrnehmen.
Und was bedeutet Freiheit?
Ich soll jetzt bestimmt nicht den Begriff definieren. Freiheit ist für mich persönlich die Möglichkeit, über vorgegebene Strukturen, natürlich Verwaltungsrichtlinien, außerhalb von Hauptwegen und Konventionen zu denken, zu suchen, Dinge auszuprobieren. Und darüber hinaus heißt Freiheit natürlich auch, anderen nicht zu schaden.
Nach Freiheit und Leben – Was bedeutet der dritte Begriff: „Schule“?
Eine Institution, in die jedes Kind gehen muss. Eine Pflicht. Eine Chance. Ein Treffpunkt. Ein Ort zum Lernen, ein Ort zum Arbeiten. Ein Ort für eine lange Zeit.
Und letztlich: Was bedeuten diese drei Begriffe gemeinsam?
Das ist dann einfach: Sich mit am Lernen interessierten und engagierten Menschen unterschiedlichsten Alters an einem Ort treffen, gemeinsam Wege des Lernens besprechen, ausprobieren und viele Kontakte zu anderen Menschen entwickeln. Eine inspirierende Zeit mit einer Vielfalt von Angeboten leben und gestalten.
Begeben wir uns in die Praxis: Was sind für Sie die großen Entwicklungen von Schule in den letzten 20 Jahren?
Da beschränke ich mich mal auf den europäischen Raum. Denn in vielen anderen Ländern sind große Entwicklungen der Bau von Schulgebäuden und das Bereitstellen von Arbeitsmitteln. Wir hingegen leben in der sehr komfortablen Lage, alle Arbeitsmittel, gute Schulgebäude, ausgebildete Lehrer und Schüler, die genug zu essen haben, vorzufinden.
Die Herausforderungen, denen wir uns in den letzten 20 Jahren stellen mussten, sind geprägt von der mehrheitlichen Erkenntnis, dass es in Schule weniger um Unterricht, sondern mehr um Lernen geht. Das ist ein Paradigmenwechsel, der es in sich hat. Und er ist auch noch längst nicht vollzogen. Damit einhergehend haben die meisten Schulformen und Schulen ihre autoritäre Ausstrahlung verloren. Das bedeutet, dass wir plötzlich eher gleichberechtigte und auf Augenhöhe agierende soziale Gruppen vorfinden. Dabei finden Lehrerinnen und Lehrer viele verschiedene Wege, um Heranwachsende zu begleiten und auch zu begrenzen, wenn es um das Akzeptieren von Normen und Werten geht. Insgesamt geht es um die Individualisierung des Lernens. Ich glaube, deshalb sind freie Schulen auch so nachgefragt. Der Blick auf das einzelne Kind ist für uns eine Selbstverständlichkeit.
Natürlich steht dahinter auch das Verständnis einer familienfreundlichen Schule, die viele Angebote unter einem Dach bündelt.
Welche dieser Entwicklungen war oder ist in Brandenburg besonders prägend?Ich kann diese Entwicklungen nicht auf Brandenburg begrenzen. Die schwindende Autorität von Schule ist auf Deutschland bezogen im Norden und in den Großstädten stärker als im Süden zu beobachten. Dass Schüler und Schülerinnen nachhaltig das Lernen nur durch Lernen lernen – das ist wohl sehr alt und weltweit so. Aber wird es überall gleichermaßen wahrgenommen und umgesetzt? Wohl auch nicht in Brandenburg.
Und für Brandenburg entscheidend halte ich die Notwendigkeit, dass ich in allen Landesteilen für mein Kind den ihm gemäßen Bildungsgang angeboten bekomme. Das muss ja nicht an Schulformen gebunden werden.
Wenn nicht für Brandenburg – Welche dieser Entwicklungen waren für freie Schulen von besonderer Bedeutung?
Schulen in freier Trägerschaft nehmen solche Entwicklungen häufig schneller auf, unterstützen sie, bringen sie ins Rollen. Wenn ich die Reformpädagogik zu Beginn des 20. Jahrhunderts anschaue, sehe ich schon einen gleichberechtigten Lernprozess, das Projektarbeiten, den Ganztag. Nach fast 100 Jahren haben sich diese Elemente etabliert und das Lernen ist in vielen Klassen zu Hause. Nur unser Schulgesetz spricht vom Unterricht und von der Vermittlung von Kompetenzen. Besser wäre wohl, dass Schüler Kompetenzen erwerben und entwickeln.
Und unterschiedliche Bildungsgänge auch mit wenigen Schülern anzubieten – das ist eine Herausforderung, der sich freie Schulen besonders gern stellen.
Wie sehen Sie – ganz generell – die aktuelle Situation von Bildung und Schule in Brandenburg?Ich bin ja schon ein bisschen alt und erlebe vieles als Déjà-vu. Als Kind standen vor uns mitunter Fachleute, die keine Lehrer waren. Heute suchen wir wieder händeringend Fachlehrer für verschiedene Fächer. Darüber hinaus stehen uns mitunter Notsituationen in der Versorgung mit Hort-, Schul- und Kitaplätzen gegenüber.
Was nutzt uns hier die Freiheit des einzelnen, der das Lehramt Deutsch/Geschichte für das Gymnasium studiert, wenn wir kaum Mathematik-, Kusnt-, Physik- oder eben Grundschullehrer einstellen können, weil keine Absolventen an den Hochschulen das Studium abschließen? Freiheit wird hier indirekt zur Verantwortungslosigkeit. Es fehlen Anreize. Ich wünsche mir, dass wir die Gesetze nach den Notwendigkeiten machen und nicht wir die Wirklichkeit zurechtstutzen nach den Gesetzen.
Wir haben die aktuelle Lehrplandiskussion, die viele Notwendigkeiten zum Ziel hat. Das wirkt alles sehr groß und vielschichtig. Meine Sorge geht in die Richtung, ob über die Größe und Vielfältigkeit die einzelne Stunde dann in dem stecken bleibt, was bereits im vergangenen Jahrhundert vom Lehrer vorbereitet wurde. Ich würde mich freuen, wenn Medienkompetenz und Sprachbewusstheit, Projektarbeit und fächerübergreifendes themenorientiertes Lernen in allen Schulen zur Normalität wird.
Die Idee, Schulzentren zu errichten, finde ich gut und einen richtigen Ansatz, aber nicht neu. Das Papier zum „Längeren gemeinsamen Lernen“ sollte sich definitiv stärker an den wissenschaftlichen Vorgaben zu der Anzahl der zu fördernden Kindern orientieren. Das hat doch der Finanzminister mitgeschrieben – das finde ich falsch, weil diese Probleme letztlich die Arbeit der Kolleginnen und Kollegen in den Klassen und Lerngruppen hemmen.
Welche Rolle spielen darin freie Schulen? Und welche Rolle können bzw. sollten sie in Zukunft spielen?
Freie Schulen haben eben die Chance, Konzeptänderungen, neue Ideen, anderes Lernen in Schule auszuprobieren. Sie werden weiterhin Motor sein, sie werden kluge Konzepte rasch umsetzen, werden, Kolleginnen und Eltern und Schülerinnen und Schüler mobilisieren. Denn das sind unsere Stärken – egal, welches Konzept wir umsetzen. Für uns steht das einzelne Kind im Mittelpunkt und die Möglichkeit, dieses maximal zu fördern, zu begeistern und ins Lernen zu bringen. Natürlich tun das auch viele staatliche Schulen, aber nicht in dieser Konsequenz und steten Verlässlichkeit. Oder eben nur dann, wenn auch deren Existenz davon abhängt. Ich bin sehr froh, in solchen Schulen zu arbeiten. Das Arbeitsklima ist toll, es macht Spaß, innovativ zu sein und neue Dinge auszuprobieren und wenn sie funktionieren, rasch umzusetzen. Das ist auch ein wichtiges Argument für Kollegen, in freien Schulen zu arbeiten. Weniger Bürokratie, mehr Gestaltungsmöglichkeiten.
Die zehnte Frage zur Person: Stellen Sie sich vor, sie sind die nächste Brandenburger Bildungsministerin – Welche drei Gesetzesänderungen würden Sie durchsetzen?
Irene Petrovic-Wettstädt: Das ist einfach! (lacht) Der §124 des Brandenburgische Schulgesetzes lautet: Schulen in freier Trägerschaft erhalten 100% ihrer Kosten vom Land ersetzt, wenn sie die Verwendung der Mittel für die Ausgaben zur Beschulung nachweisen. Die §15 und §16 werden zusammengefasst: Die in §15 aufgezählten allgemeinbildenden Bildungsgänge können in Schule nach regionaler Notwendigkeit angeboten werden. Damit sind Diskussionen zu Schulformen überflüssig. Über die Wirtschaftlichkeit hat sich die Schule mit dem MBJS abzustimmen. Die §7 und §8 sollten so gefasst werden, dass Schulen eine allumfassende Selbstständigkeit zugestanden wird, sie als Rechtsform selbst tätig sein können und natürlich Schulversuche in ihrer eigenen Verantwortung gestalten können.
Da muss ich dann nur noch das Finanzministerium und den Landtag auf meine Seite bringen.
Vielen Dank für das Interview